Erinnerungen an meinen Freund Mani Planzer

Der Bahnhof von Bandol liegt hoch über der Bucht. Der Blick aufs Meer hat  sich mir eingeprägt. Ich wartete dort mehrere Stunden auf Mani. Er hatte mich besuchen wollen in meiner Schreibklause im Hinterland von Bandol, von  Spanien aus, wo er sich seine Klause auch in einem Hinterland eingerichtet hatte. Ich habe sie nie gesehen, die Oliven, die er dort hegte und pflegte, streng biologisch. Die Züge, die von Marseille aus in Bandol hielten, kamen. Kein Mani. Ich wartete auf den letzten noch möglichen. Mit dem kam er. Schon im Auto erzählte er mir: In Catalonien irgend ein Durcheinander mit den Eisenbahnen. Er war in Barcelona stundenlang in einem Wartsaal gesessen in einer Sala d‘espera. Eine alte Frau habe dort ihrer Enkelin das Warten zu erklären versucht. Esperar heisst auf spanisch warten. Wir fanden es toll, dass wir als Nicht-Spanier im Wort auch das Hoffen missverstehen konnten. Esperar: enthält alles Warten ein Hoffen? Wir wussten es nicht; ich weiss es immer noch nicht. In unsern Gesprächen umkreisten wir den Kern seiner Musik „Esperar“ für sein Morschachblasorchester und eine Orgel mit Regenmaschine. Letztere gibt es in der Hofkirche in Luzern, wo das Werk uraufgeführt wurde. Mani hatte sich von Verschiedenen Texte schreiben lassen. Die ‚vertonte‘ er für einmal nicht. Die standen in einem Büchlein, das die Leute in der vollen Hofkirche in Händen hielten und sehen konnten, wenn sie wollten, wie Manis Musik aus der Folge der Bilder in Sprache sich entwickelte. Die Texte stehen auch im Booklet der CD. Wer Manis „Esperar“ wie ich immer wieder hört, braucht sie eigentlich nicht mehr.

Ich habe mit Mani Planzer häufig zusammengearbeitet. Unsere Freundschaft gründete in der Arbeit miteinander. Es ist traurig, nicht mehr auf weitere Arbeit mit ihm warten zu können. Sehr vielen wird es ähnlich gehen. Die sehr vielen, mit denen zusammen er sein Werk schuf, die Musiker seiner Bigbands, die Chöre, die Blasmusiken, die Alphorn- und Büchelbläser, die Konsi-Studenten, die er in Improvisation unterrichtete, alle die, die er zum im-proviso, zum Unvorhergesehenen verführen konnte, die Filmer, die Schreiber, die Laien und  die Superprofis schliesslich in einem seiner letzten und schönsten Werke.
„Wenn Flügel Seele streift“. Nichts Mystisches, eine Taube hatte sich ins Horn des Saxophonisten gesetzt. Mani hatte gegrinst. Es sind immer die scharf wahrgenommenen Zufälligkeiten, die Seele streifen.

Mani und ich hatten uns zufällig kennen gelernt. Mani hatte den Auftrag, für ein Radioorchester und einen Chor eine Musik zu Weihnachten zu schreiben. Er suchte einen, der dafür einen Text machen konnte. Einer, der damals in  Luzern Predigten hielt, die Skandal machten, ein Dominikaner, hatte ihn an mich verwiesen. Wir trafen uns im Restaurant Kunsthaus in Zürich. Ich hatte schon früher mit Musikern zusammengearbeitet und freute mich auf eine neue Möglichkeit. Wir kannten uns nicht. Mani schien nur aus Skepsis zu bestehen. Kann man zu Weihnachten überhaupt noch etwas in Sprache bringen, und kann der das, der ihm gegenüber sass. Schubert soll, wenn ein  Neuer in seinem Kreis auftauchte, gefragt haben: Kann er was? Die  unverhohlene Skepsis fing mich an zu nerven und ich schmiss ihm über den Tisch hinweg die drei Verse zu: Weihnachten zum Beispiel / Weihnachten zum Beispiel in Zürich / Weihnachten zum Beispiel im Urwald. Von da an konnten wir es miteinander. Aber sie blieb immer, diese Distanz, richtiger, diese Spannung in unserer Freundschaft, deren Zentrum die Arbeit ausmachte. Mani war zum Beispiel mein Engangement für die Rebellen der 80er in Zürich zunächst ziemlich fremd. Mein Text zum grossen Oratorium „Herr der Lage“ war ihm wohl zu radikal. Seine Musik, die er für den Chor Kultur und Volk und ein Jazz-Ensemble schrieb, radikalisierte aber die Trauer, die den Kern meines Textes ausmachte. Im Trauergottesdienst beim Tod meiner Frau Astrid spielte das Jazz-Ensemble die Hauptthemen, und eine Woche später war die Uraufführung im vollen Zürcher Volkshaus für mich und Mani gleichzeitig zum Manifest des Protests und der Trauer geworden. Die Formen unserer Zusammenarbeit waren immer wieder anders. Es war Mani, der immer neue Konstellationen ausheckte, Räume, Versuchsanlagen, in denen Kunst (ein Wort, das er sehr sparsam verwendete) sich ereignen konnte. Lange, bevor das Mode wurde, entwickelte er multimediale Konzepte. „Mobilitäten“ in der Boa-Halle in Luzern war nur die bis zur letzten Konsequenz getriebene Installation von Musik, Text, Malerei, Film, Video; selbst das Publikum wurde räumlich installiert. Entscheidend für Mani war die Verstehbarkeit, die Durchschaubarkeit – und die Lustbarkeit, anders kann man‘s nicht nennen, dessen, was geschah. Mani hat für mich sowohl die sinnlichste als auch die intelligenteste Musik entworfen, die ich mir vorstellen kann. Am meisten fasziniert hat mich immer die unbedingte Professionalität und  Eigenständigkeit selbst dort, wo sein Beitrag etwas anderes ‚nur‘ begleitete, seine Musik für die Filme Erich Langjahrs, seine Lieder auf Texte Max  Huwylers, seine Songs für mein Theaterspektakel „Mordnacht“, seine absolut radiophonen Tonkonzepte für die Satiresendung Der Faktenordner, um nur einige wenige zu nennen. Ich sass schon früh stundenlang in Proben seiner damaligen Bigband irgendwo in einem engen Raum in Wädenswil. Später immer wieder in den Proben mit dem Chor Kultur und Volk, mit dem Morschachblasorchester. Ich wollte sehen, wie er es macht, dass es dann so funktionierte, wie es funktionierte, vom kleinsten bis zu den Höhepunkten am Jazzfestival Willisau zum Beispiel, in Esperar, in Herr der Lage, in Wenn Flügel Seele streift. Schon im engen Probenlokal in Wädenswil, voll ausgefüllt vom gewaltigen Klangkörper, verstand ich, da ist einer unerbittlich, auch wenn er ‚bloss‘ ein Stück von Count Basie probierte, unerbittlich, bis die ‚Sache‘ seinen Ansprüchen entsprach. Und gleichzeitig war mir damals schon klar, da holt einer Dinge aus Leuten heraus, die ohne ihn gar nicht gewusst hätten, was sie konnten.

Mani konnte was! Er hat nie aufgetrumpft mit seinen Hintergründen. Aber er hatte sich von 1960 bis 1968 gründlich ausgebildet an der Musikakademie Zürich und am Konservatorium Basel, bei Ligetti, Kagel, Boulez, Stockhausen Komposition der sogenannten E-Musik studiert, den Jazz für sich selber erforscht, mit dem tschechischen Komponisten Pavel Blatny  zusammengearbeitet, war 1966 Preisträger in Prag im internationalen Kompositionswettbewerb, hatte andere (viel zu wenig) Preise erhalten, war diplomiert als Chordirigent und Lehrer der Komposition, unterrichtete in Sommerkursen in Salzburg, an den Konservatorien Basel und Winterthur (dort noch schon schwer gezeichnet von seiner heimtückischen Krankheit), war aufgeführt in Meierskappel, in Boston, in Zug, in New York, in Willisau, in Zürich, in Prag, in Luzern und und und. Was Mani nicht konnte (und nicht wollte) war, sich mit diesem gewaltigen Background auch angemessen zu verkaufen. Er konnte und wollte das nicht, weil er sich in keines der musikalischen Ghettos einsperren liess. Er war auch nicht abzustempeln als Mann des „Third stream“ zwischen E und U. Er war im Jazz ein strenger Kontrapunktiker, und in den feinsten Subtilitäen seiner reifsten Werke ‚swingte‘ es unvermutet, – wie wenn Flügel Seele streift. Es gab Zeiten, in denen seine Art von Understatement (das keines war) so weit gehen konnte, dass, wer ihn nicht näher kannte, meinen konnte, dieser Planzer sei zum Beispiel ein Lehrer, ein Hortleiter oder einer, der in Spanien biologisch Oliven und Trauben zog. Das hatte er alles auch gemacht, mit gleicher Intensität wie alles andere. Er war auch ein ausgezeichneter Fotograf und schien sich eine Zeit lang mindestens so sehr als Journalist wie als Komponist zu verstehen. Ich habe ihn erlebt, wie er das Bauernhaus, in das er sich für eine Zeit eingemietet hatte, selbst neu schindelte, wie er einen Baum fällte im Horbach auf dem Zugerberg und stolzer darauf war als auf einen erfolgreichen Auftritt seiner damaligen Bigband, wie er mich durch seinen Hausgarten führte, streng mich unterweisend über die richtige Art zu säen und zu pflanzen, als wär es ein biologischer Lehrpfad.

Lieber Mani, lieber Freund! Du hast mir einmal fast zur gleichen Zeit grinsend gesagt, eigentlich seist Du wahrscheinlich einfach ein Nachkomme jenes Vorfahren der in der Schlacht(-Katastrophe) von Marignano das Urner Heerhorn geblasen habe, und mir erklärt, warum Du ein Evolutionär und kein Revolutionär seist. Dich interessiere letztlich nur zweierlei, das Prozessuale und das Elementare. Die Musik, wie Du sie in Dir hörtest und wie sie Du für uns zum Tönen bringen konntest, griff immer wieder auf die Elemente von Musik überhaupt zurück und entwickelte daraus die Kunst, streng, unerbittlich klar und schön immer wieder ins Unvorhergesehene, ins, vielleicht auch von Dir selbst Unvorhersehbare. In einem unserer langen Telefonaten, als Du noch wartetest, ob Du vielleicht noch hoffen konntest, mit dem Humor, den ich nur bei Dir kannte, sagtest Du unvermittelt, manchmal spürtest du schon die „Flügeli“ wachsen. Als wir, Deine Freunde und Freundinnen, im Friedental mit dem wunderbaren Blick über den Rotsee hinaus dabei waren, als man Deine Asche im Gemeinschaftsgrab bestattete, blies einer Deiner Musiker am Anfang und am Ende der kurzen Feier einen einzigen Ton, so lange er ihn aushalten konnte, streng, karg, rein – und schön. Wir werden versuchen, das, was wir von Dir gelernt haben, weiter zu entwickeln, – sperantes, Wartend-Hoffende trotz allem.
Manfred Züfle
(https://web.archive.org/web/20160304135744/http://zuefle.ch/pdf/texte/inmemoriam/Mani_Planzer.pdf)

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